Überbleibsel
Es war Dezember, die Natur legte sich langsam zur Ruhe. Aus den Häusern schimmerten sanfte Lichter in die Dunkelheit hinein. Die Nachrichten aus aller Welt überschlugen sich und ließen die Menschen nicht so richtig zur Ruhe kommen.
Tom, ein weiser alter Mann, wanderte, um abzuschalten, zu einem Ort, der noch naturbelassen war, und versuchte dort einfach seine innere Ruhe wiederzufinden.
Er erinnerte sich an seine Kindheit, die er mitten im Krieg erleben musste. Keiner hatte ihn gefragt, ob es ihm recht sei, dass sein Vater von der Armee eingezogen wurde. Der Krieg tobte vor seiner Haustür. Nachts weinte er leise in sein Kissen, um seine Mutter nicht zu beunruhigen. Tagsüber half er und griffihr unter die Arme, so gut es eben ging,
„Weihnachten" erinnerte sich Tom, „was hätte ich dafür gegeben, wenn ich es mit meinen beiden Eltern hätte feiern können."
So blieb er jenes Jahr, an welches er sich gerade erinnerte, mit seiner Mutter ganz allein. Tom wuchs schneller, als es der Mutter lieb war. Sie versuchte die Hosen zu verlängern und nähte Keile ein, damit er etwas auf dem Leib hatte. Wie gern hätte er eine neue Hose gewollt oder überhaupt eine warme passende Jacke. Seine war an den Ärmeln angestrickt und damit verlängert. Die Farbe ließ auch zu wünschen übrig, sie war gerade noch schwach zu erkennen. Ein Schauer durchfuhr ihn bei diesen Erinnerungen, ihm wurde bewusst, wie schwer es seine Mutter damals hatte, als sie alles allein bewältigen musste.
Tom hatte tausend Wünsche von dem Weihnachtsmann. Dennoch malte er in jenem Jahr keinen Wunschzettel. Jedoch tief im Herzen pochte der wichtigste Wunsch, „möge es doch bald wieder „Frieden werden auf Erden.“
Damals, als Tom seine erste Geschichte schrieb, war er gerade zehn Jahre alt geworden. Sie handelte von einem weisen Mann der versuchte Trost in einer Zeit auszusenden, in der keiner wusste, wie sich das Morgen entwickeln wird.
Eine Traurigkeit durchfuhr ihn, denn die Geschichte, die er geschrieben hatte, war im Laufe seines Lebens irgendwo verloren gegangen.
Er schloss seine Augen und wurde plötzlich Zuschauer eines wunderschönen Farbenspiels, welches seine Gedanken ihm präsentierten.
Die Farben des Lebens
Tom sah, wie er sich mit der Hand durchs Haar strich. Vor ihm lag ein weißes Blatt Papier und draußen regierte der Krieg.
Er ließ seinen Stift übers weiße Papier gleiten, dem er damit seine Gedanken anvertraute,
und reflektierte dabei seinen Morgen.
„Guten Morgen Leben", lächelt die Sonne durch die Fensterscheiben, zog an der Bettdecke und lockte es aus den Federn.
Im Bad lächelte das Spiegelbild, „na guten Morgen, gut geschlafen?" Frohgelaunt verließ das Leben den Raum, um frühstücken zu gehen. Ein wohlbekannter Duft lud herzlichst dazu ein. Leben konnte so schön sein. Ruhe und Gelassenheit begleiteten es ein Stück.
„Das Leben spielt wie auf einer Theaterbühne", dachte Tom still für sich.
„Und schon ging der Vorhang auf und all die Farben stellten sich vor und es begann ein wundervolles Schauspiel.
Das Schwarz begrüßte all die leuchtenden fröhlichen Farben. „Hallo ihr Lieben, na, wie geht es euch so". Doch keine der Farben schenkte dem Schwarz einen Blick. Jede hoffte, nicht angesprochen zu werden, wollte mit dem Schwarz der Dunkelheit nichts zu tun haben. Es war ihnen einfach unangenehm, in diese Situation geraten zu sein. Eine Zeit der Leere und Stille breitete sich aus.
Wäre eine Stecknadel zu Boden gefallen, hätte es auch ein Tauber hören können.
Wie Statuen standen all die leuchtenden fröhlichen Farben da, als sei ihnen ihr Leben angehalten worden.
Ein leises Summen wurde immer lauter und setzte sich auf das Rot. Es war eine Eintagsfliege, die sich nicht stören ließ und ihr Leben gerade lebte. Die Fliege krabbelte dem Rot über die Nase, dass es zu jucken begann und es niesen musste. „Kannst du nicht aufpassen!", schnauzte das Rot in seiner wunderschönen kräftigen Signalfarbe.
Das Grün bewegte sich im Luftzug des Windes und versuchte das Rot zu besänftigen, indem es dessen Oberfläche sanft streifte. Das Rot schaute dem Grün in die Augen und verstand dabei, was es ihm zu sagen hatte. „Ist schon gut, ich beruhige mich ja schon.“
Das Schwarz stand Abseits und beobachtete genussvoll das Verhalten der einzelnen Farben.
Das Blau stimmte eine leise Musik an so, als hörte man einen Bach plätschern. Es lächelte in seinem ganzen Sein.
Da erschien das Weiß und stellte sich vor das Schwarz. Dabei vermischten sie sich zum Teil und erschufen das Grau, bevor sie wieder auseinandergingen. Nun stand das Grau am Rand der Bühne und forderte alle Farben des Lebens auf, ihren Beitrag zu leisten.
Doch die richtige Stimmung wollte auch hier nicht aufkommen.
Da kam aus der Ferne ein lautes Rufen. Das war eine vertraute Stimme. Alle schauten sich fragend um. „Wo kommt es her? Wer ist das?" Sie erkannten die Stimme des Gelbs.
Keiner der Anwesenden hatte zuvor bemerkt, dass das Gelb noch gar nicht erschienen war.
Fröhlich betrat es gerade die Bühne und fragte in die Runde, „komm ich zu spät?“, und bemerkte die trübe Stimmung unter den Farben.
Dennoch war die Erleichterung Aller zu bemerken. „Nein du kommst gerade zur rechten Zeit“, sprach das Grau, welches bemüht war, das Ruder der gegenwärtigen Stimmung umzuschwenken.
Das Gelb breitete sich aus und lächelte dabei, während es jede einzelne Farbe ein wenig streifte, auch das Schwarz.
Wäre ein Blinder im Publikum gewesen, hätte er fühlen können, wie angenehm sich diese Situation für alle anfühlte. Wie der Retter in der Not, wo doch jede einzelne Farbe stolz auf die eigene Identität war.
„Was ist los mit euch?“ fragte das Gelb entschlossen nach.
„Das Schwarz gab den Ton an und hatte doch gar nichts zu melden", signalisierte das Rot freudestrahlend.
Die beiden Grün und Blau antworteten gleichzeitig: „Was seid ihr nur für Jammerlappen“, und als sie es aussprachen, fühlten auch sie es in sich. Selbst sie hatten sich vom Erscheinen des Schwarzen irritieren lassen.
Nun stellten sich die Farben des Lebens auf dem Weg auf. Jede Einzelne wollte dem Leben einen Sinn geben.
Doch welcher Sinn steckt eigentlich in den Farben?
Jede Farbe hat ein Recht auf ihr Dasein, wie jeder Mensch ein Recht auf sein Leben hat. Farben können Stimmungen auslösen, so wie auch jeder Mensch, unterschiedliche Stimmungen in sich trägt.
Auf einmal tat es den leuchtenden Farben leid, das Schwarz nicht angemessen begrüßt zu haben. Sie reichten ihm die Hände und tanzten vor Freude mit ihm über die Bühne.
Seitdem haben sich alle Farben freundschaftlich verbunden und wer aufmerksam durch die Natur geht, wird sie gemeinsam entdecken können. Überall.
Viel Freude wünsche ich auch dir dabei, der Winter hält wundervolle Farbenspiele parat.
Damit endete Toms Gedankentheaterstück. Ihn berührte die Geschichte so sehr, dass er sie nie vergessen konnte, zumal sie ihn an das kleine Mädchen Tina, im Nachtbarhaus gegenüber erinnerte.
Die Weihnachtsbrotsuppe
Plötzlich knallte es laut ganz nah draußen. Tina rannte zum Fenster. Sie war erst sechs Jahre alt und nur noch ihre Oma war bei ihr. Der Krieg hatte ihr die Eltern genommen.
Oma war gerade gegangen, um bei Nachbarn etwas Mehl zu erbitten, damit sie wenigstens eine Mehlsuppe für ihr Enkelkind kochen konnte.
Tina bekam panische Angst. Sie fürchtete, dass es nun auch Oma erwischt hatte, denn jemand lag auf der Straße mit dem Kopf nach unten. An den Umrissen erkannte das Kind, dass das ein Mensch sein musste, mehr nicht. Tinas Angst ließ sie unter den Küchentisch kriechen, während sie betete: „Lieber Gott, bitte hilf mir, lass mich nicht allein auf dieser Erde zurück!“ Immer wieder sprach sie diesen einen Satz, der ihr einen Funken Hoffnung in ihr kleines Herz schrieb. Erschöpft schlief sie dann irgendwann ein.
Da ging leise die Tür auf und Tinas Oma trat unversehrt ein. Auf der anderen Straßenseite hatte sie für ihre Enkelin gebetet. „Bitte lieber Herr, lass Gnade walten und beschütze meine Enkelin sowie alle Kinder dieser Welt“
Nun schaute sie sich erschrocken um, denn sie sah ihre Enkelin nicht gleich. Erschöpft und ausgelaugt zog sie den Stuhl vom Tisch zurück, um sich zu setzen, denn sie fühlte sich zittern. Beim Setzen spürte sie am Fuß einen unbekannten Widerstand. „Was war das?" Sofort schaute sie nach unten und sah ihre Enkelin dort, zusammengekauert schlafen.
Ein Lächeln huschte der Oma übers Gesicht, das ihr sofort die Kraft zurückgab. Sie stand auf, nahm eine Decke und legte sie vorsichtig um das Kind, damit es warm hatte.
Mehl hatte sie zwar keines, denn auch den Nachbarn war das Mehl ausgegangen.
Alle Vorräte waren verbraucht, aber Omas Liebe hüllte das Kind warm ein und wärmte auch sie selbst.
Der Magen knurrte: „Es muss doch noch etwas Essbares zu finden sein für meine Tina, damit wenigstens sie keinen Hunger zu leiden braucht".
Überall sah Oma nach, und wurde fündig. Sie hatte ganz vergessen, dass sie dieser Tage, als vor dem Haus eine Panzerkolonne zu hören war, mehrere trockene Brotkanten hinter dem Tellerstapel versteckt hatte,
Schnell setzte Oma Wasser auf, ließ es kochen und übergoss das harte Brot damit. Für Tina hatte sie noch ein Glas Milch von der Nachbarin geschenkt bekommen und etwas Zucker.
Während Oma die Speise vorbereitete, erwachte Tina aus ihrem Schlaf. Vielleicht war es zu hart geworden auf den Boden oder ein Geräusch weckte sie auf.
„Nein, es war der Hunger, der sich laut meldete und gut zu hören war, als ihm der Duft des Brotes die Nase kitzelte."
Schnell stellte Oma noch den grünen Tannenzweig in die Vase, den sie von der Nachbarin mitbekommen hatte, zündete eine Kerze an und schöpfte feierlich die köstliche Weihnachtsbrotsuppe in die Teller, um sie gemeinsam mit dem Kind zu verspeisen.
In der Zwischenzeit saß Tom, der alte weise Mann, auf einem Baumstumpf, der ihm während der Erholungspause als Sitzgelegenheit diente. Er dachte: „Die Tage sind so unterschiedlich, wie das Leben auch und das über Jahrzehnte".
Tief holte er Luft, bedankte sich bei dem Leben für diese Erinnerungen, stand auf und ging weiter seiner Wege. Es war ganz allein sein Spaziergang.
Am Heiligen Abend vor der Dunkelheit war er wieder daheim, wo für ihn gesorgt wurde.
© 04.12.2015 Petra-Josephine